Das geschah vor sechs Jahren: Brückeneinsturz in Genua im August 2018 hätte leicht verhindert werden können. Prüfbericht stellt klar: Kontrollen und Wartungen wurden zeitlich verschleppt.
von Dr.h.c. Bernhard Heck

Der Prüfbericht stellt klar: Kontrollen und Wartungen wurden zeitlich verschleppt, am Unglück in Genua war nicht das Wetter schuld, sondern am entscheidenden Träger 9 wurde seit 1993 keine Wartung vorgenommen! Selbst Warnungen zum Zustand der Brücke waren ignoriert worden. Das Gutachten zeigte ein deutliches Fazit: Die Brücke Ponte Morandi in Genua wäre nicht eingestürzt, wenn die Firmen und Ämter, die über Jahrzehnte hinweg für den Unterhalt der Brücke zuständig waren, sie gepflegt hätten. (…mehr)
Der Bericht von vier Universitätsprofessoren, die von der Untersuchungsrichterin Angela Nutini mit der Prüfung der Einsturzursachen beauftragt wurden, lese sich „wie ein Urteil“, schreibt die Zeitung La Repubblica.
Das Gutachten umfasst 467 Seiten, 14 Kapitel zum Einsturz der Brücke. Dort krachte das Mittelteil der Autobahnbrücke mitten in der Innenstadtaus 45 Meter Höhe in Genua zusammen, Lastwagen und Autos, leider 43 Menschen wurden in den Tod mit gerissen. Das Gutachten zeigte ein deutliches Fazit: Der Ponte Morandi in Genua wäre nicht eingestürzt, wenn die Firmen und Ämter, die über die Jahrzehnte hinweg für den Unterhalt der Brücke zuständig waren, sie gepflegt hätten. Der Bericht von vier Universitätsprofessoren, die von der Untersuchungsrichterin Angela Nutini mit der Prüfung der Einsturzursachen beauftragt wurden, lese sich „wie ein Urteil“, schreibt die Zeitung „ La Repubblica“. Und die Expertise fügt den Angehörigen der 43 Todesopfer weiteren Schmerz zu. Weder die Unwägbarkeit des Schicksals noch das Wetter spielten eine entscheidende Rolle. Zentral war die mangelhafte Ernsthaftigkeit der Menschen im Umgang mit dem kühnen Bauwerk eindeutig die Ursache. An der Stabilität des Ponte Morandi in Genua hatten selbst Laien immer gezweifelt. Lange vor dem Einsturz, intuitiv. Beim Ãœberqueren der imposanten Brücke über dem Val Polcevera befiel einen stets ein mulmiges Gefühl, zuweilen zitterte sie. Doch was war mit den inkriminierten Managern der Betreibergesellschaft – wussten die tatsächlich nichts von den Gefahren, wie sie behaupten?

Die Zeitung «La Repubblica» berichtet exklusiv, dass die Ermittler in den Computern am römischen Hauptsitz von Atlantia schon vor etlichen Monaten eine «Bescheinigung» von Experten gefunden hätten, die das Unternehmen und seine Manager schwer belaste. Atlantia ist die Holding der schwerreichen Familie Benetton, zu der unter anderem das Unternehmen Autostrade per lÃŒtalia gehört, das weltweit 14’000 Kilometer Autobahnen betreibt, sowie Spea, die das italienische Netz nach Sicherheitsproblemen überwachen soll. Bemerkenswert: Von 2014 bis 2016 ist in den Rapporten von Spea jeweils explizit dokumentiert, beim Ponte Morandi gebe es ein «Einsturzrisiko». Ab 2017 dann, ohne leicht ersichtlichen Grund, wurde die Gefahr herabgestuft auf «Risiko eines Stabilitätsverlusts». Bei Einsturzrisiko hätte die Brücke natürlich sofort und ganz gesperrt werden müssen, was nie passierte!
Die Schrägseilbrücke über das Val Polcevera, mehr als einen Kilometer lang, eingeweiht 1967, war am 14. August 2018 um 11.36 Uhr kollabiert. Über Genua wütete gerade ein Unwetter mit starken Winden. Es war Ferienzeit, 43 Menschen wurden in den Tod gerissen, als der Ponte Morandi am 14. August 2018 kurz vor Mittag einstürzte. 35 Autos und drei Lastwagen stürzten aus 45 Metern Höhe in die Tiefe. An einem normalen Werktag wären viel mehr Autos unterwegs gewesen, ein kleines Wunder in der Tragödie. In der unmittelbaren Folge mutmaßte die Autobahnbetreiberin, dass der Träger 9, der als erster nachgab, sei von einem Blitz getroffen worden. Aber das war nicht der Fall, die Gründe lagen tiefer, in der Fahrlässigkeit der Verantwortlichen aus Stadt, Bund und Land. Die größte Katastrophe auf dem italienischen Straßennetz seit Menschengedenken hätte durch mehr behördliche Sorgsamkeit vermieden werden können.
So soll die Betreiberfirma vom Einsturzrisiko Ponte Morandi in Genua gewusst haben. Beim Einsturz der Ponte Morandi in Genua kamen im August 2018 43 Menschen ums Leben. Die Manager der Betreiberfirma behaupten seitdem, nichts von einem Einsturzrisiko gewusst zu haben. Dokumente belegen nun das Gegenteil. Zentral dabei ist das Beweisstück 132, das Kapitell von Pfeiler 9. Der Eisenstrang darin, das die Struktur in diesem Punkt der Brücke hätten tragen sollen, waren total zerschunden – die dicken Bündel waren nur noch dünne Fäden. „Der Grund, der den Einsturz einleitete“, schreiben die Experten, „war die Korrosion im oberen Teil von Träger 9.“ Weiter: „Wären die Kontrollen und die Wartung korrekt ausgeführt worden, wäre es höchstwahrscheinlich nicht zum Einsturz gekommen.“
Und: „Obschon die Risiken des Zerfalls bekannt waren, wurde nicht genügend aufgepasst.“ Selbst Planer und Ingenieur Riccardo Morandi warnte vor Verschleiß in der Brücke. Gewarnt war man schon lange gewesen, nämlich seit den 1980er-Jahren – und zwar durch den Planer persönlich. Riccardo Morandi, ein gefeierter Ingenieur, war weniger als zwanzig Jahre nach der Einweihung des stolzen Viadukts von der Autobahnbetreiberin Autostrada beauftragt worden, den technischen Zustand zu prüfen. Und Morandi war in seinem Papier denkwürdig selbstkritisch. Er schrieb von „einem bereits stark verbreiteten Verschleiß“, der viel größer sei, als sie es beim Bau hätten voraussehen können. „Ãœber die Jahre hinweg wurden auch die Ratschläge des Ingenieurs missachtet“, heißt es jetzt im Rapport der Experten, und das ist angesichts der Außergewöhnlichkeit des Bauwerks schon sehr erstaunlich.
Die Vermutung der Experten ist, dass die stark „federnde“ Vorspannung mit den gedehnten Stahleinlagen des des Betons infolge Kriechens und Schwindens von Kondenswasser weitgehend korridiert war. Die Herstellung weitgespannter Tragwerke ist aus wirtschaftlichen und technischen Gründen praktisch nur mit Vorspannung möglich. Grundsätzlich werden zwei verschiedene Spannverfahren unterschieden: Die Spannbettvorspannung und die Vorspannung des erhärteten Betons“.
Im Mai 2023 sagte ein langjähriger Vorstandsvorsitzender der zuständigen Benetton-Holding im Gerichtssaal aus. Demnach, so Gianni Mion, wusste man bereits 2010 von Sicherheitsmängeln an der Brücke, die Einsturzgefahr war also bekannt. „Vieles haben wir nicht gemacht, was wir hätten tun sollen. Dumm war das. Aber wir haben es eben nicht gemacht.“ An Träger 9 war seit 1993 keine Wartung mehr durchgeführt worden. Der Bericht von 2022 ist nun das Herzstück im Beweisverfahren zu den Einsturzursachen, fortgesetzt wird es im Januar. Mehr als siebzig Manager, Beamte und Techniker sind angeklagt wegen fahrlässiger Tötung in 43 Fällen.
Die Brücke ist unterdessen ganz abgerissen und durch eine neue ersetzt worden, entworfen von Genuas Stararchitekt Renzo Piano, im Sommer am 3. August 2020 wurde sie eingeweiht. Die Italiener schafften den Wiederaufbau in 310 Arbeitstagen. Ein Rekord, Ein Rekord, weil rund 1.000 Arbeiter im Schichtbetrieb rund um die Uhr sieben Tage die Woche – auch während des Corona-Lockdowns – gearbeitet haben. Deshalb heißt Sie jetzt, Genova San Giorgio, wie der Stadtheilige der italienischen Hafenstadt am Mittelmeer.
Quelle: Oliver Meiler (Der BUND, Schweiz)
Titelfoto: Der grüne Lastwagen mit dem blauen Führerhaus konnte gerade noch anhalten. Der Fahrer erzählte später, ein anderes Auto habe ihn geschnitten, sodass er abbremsen musste. Das habe ihm das Leben gerettet. Das andere Auto stürzte in den Abgrund. © Antonio Calanni/dpa
